Beratung und Coaching für Menschen mit Hochsensibilität – brauchen wir eine andere Form der Begleitung?
„Ich möchte berührt oder bewegt werden. Ich möchte wahrhaft erreicht werden. Und ich möchte darauf antworten können, emotional, körperlich und gedanklich. Ich möchte mit mir selbst und der Welt in einen guten Kontakt kommen. Ich möchte einfach ich sein.“
Nach diesen Worten eines hochsensiblen Klienten begann ich mich zu fragen, ob Menschen mit dieser Gabe einer anderen Form der Beratung bedürfen und welche Aspekte der Beratung, welche Haltung des Beraters und welche Interventionen in der Beratung unterstützend wirken können, um Klienten einen guten Kontakt zu ermöglichen – in der Beratung und darüber hinaus. Und natürlich stand im Umkehrschluss die Frage im Raum, was die Folge einer Beratung wäre, die diese Aspekte nicht beachtet.
Es ist noch nicht lange her, dass ich selbst zu der Erkenntnis gelangte, hochsensibel zu sein. Ein Freund kam von einem Seminar zurück und erzählte von einem Dozenten, der das Thema in seine Ausführungen einbaute. „Ich hatte das Gefühl, der spricht von dir“, waren die Worte meines Freundes. Es folgten ausgedehnte Streifzüge durch die im Internet verfügbare Literatur sowie vielfältige Gespräche und Seminare bei unterschiedlichen Beratern, Coaches oder Instituten.
Nicht alles war hilfreich, und mein eigenes Erleben als Klientin sowie das Feedback meiner Klienten ist Anlass dieser Arbeit. Meine und ihre erfolgreichen und erfolglosen Beratungsgespräche fließen in die nachfolgenden Überlegungen ein. Eine Erkenntnis steht dabei für mich wie eine Klammer um alle Überlegungen: Nur, wenn wir es als Berater schaffen, den Klienten in einen „guten Kontakt“ zu sich und uns zu bringen, kann die Beratung erfolgreich sein. Was „guter Kontakt“ ist und wie er entsteht, ist Teil des 3. Kapitels.
Hochsensibilität ist eine Gabe, und ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Welt Menschen mit Feingefühl braucht, die mit sich und ihrem Umfeld in Einklang, in Resonanz sind, um diese Gabe entfalten zu können. Hier will ich mit meiner Beratung einen Beitrag leisten. Im theoretischen Ansatz kombiniert dieser Artikel die Ausführungen von Ulrike Hensel „Hochsensible Menschen im Coaching“ mit der Resonanztheorie von Hartmut Rosa sowie der Auswertung diverser qualitativer Interviews. Im praktischen Vorgehen kombiniere ich die eigenen Erfahrungen als hochsensibler Mensch mit Erfahrungen und Gesprächen aus diversen Beratungen, Coachings und Mediationen.
Ich will an dieser Stelle nicht verschweigen, dass Hochsensibilität als Wesensmerkmal trotz umfangreicher Untersuchungen bis heute von unterschiedlichen Wissenschaftlern in Frage gestellt und kontrovers diskutiert wird. Die überaus große Nachfrage seitens Ratsuchender zeigt jedoch, dass das Phänomen eine große Resonanz in der Öffentlichkeit findet. Daher sollte dieser Gabe und den Menschen, die sie tragen, auch im Beratungskontext mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Und ich will auch die kontroversen Diskussionen mit Freunden und Kollegen nicht verschweigen, die immer wieder die Frage aufwarfen, ob meine Forderungen für eine HSP-Beratung nicht auch für Nicht-HSP gelten würden. „Ja“ ist hier die klare Antwort, auch wenn es eben Aspekte, Haltungen und Interventionen gibt, die HSP in ihrer besonderen Wesensart stärker unterstützen als andere.
Guter Kontakt ist die Basis von Resonanz. Nicht nur für Menschen mit HSP.
„Guter Kontakt“? Ist das nicht die Grundvoraussetzung für jede gute Beratung? Ja, definitiv. Nicht umsonst wird dem Thema Pacing und Leading so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Dennoch erfährt das Thema „guter Kontakt“ in Bezug auf HSP aus meiner Sicht eine neue Dimension. HSP haben ein großes Dilemma: Sie sehnen sich nach Kontakt und gleichzeitig fürchten sie den Austausch mit anderen Menschen. Dabei sind die meisten von ihnen extrem emphatisch. Sie fühlen mit, sie fühlen sich ein, sie lieben guten Austausch, Gesprächstiefe und wahrhaftige Verbundenheit.
Doch in der Art, wie sie Kontakt lieben und bräuchten, erleben sie es selten. Menschen mit der Gabe der Hochsensibilität erfahren immer wieder, dass andere sie nicht verstehen, sie für übertrieben empfindlich in ihren Reaktionen halten und bei Gesprächen abschalten. Was bleibt ist das Gefühl, dass ein nährender Kontakt nicht zustande kommt oder schlimmer noch, dass sie ihn nicht verdient haben. In der Folge meiden sie den Kontakt. Das ist nicht nur das „Aus“ möglicher Beziehungen, sondern entzieht auch einem Beratungsgespräch jede Grundlage. In der Folge kann ein Teufelskreis aus Rückzug, folgender Einsamkeit und weiter verstärkter Reizempfindlichkeit entstehen.
An dieser Stelle müssen wir also verstehen, was ein „guter Kontakt“ ist und wie er für HSP entsteht. Das habe ich einige meiner Klienten gefragt. Einige Aussagen will ich hier als Beispiele aufführen: „Guter Kontakt ist, wenn ich mich spüre“, sagte einer meiner Klienten. „Nur, wenn es still ist, kann ich Kontakt zu mir aufnehmen“, sagte ein anderer. „Guter Kontakt entsteht, wenn ich in der Natur bin, den Wind spüre, Holz fühle. Manchmal umarme ich einfach einen Baum im Wald“, fügte einer meiner Gesprächspartner hinzu. „Wenn ich spüre, was du spürst, ohne dass es mich belastet, dann ist das für mich guter Kontakt“, kam als Aussage ebenso wie „…wenn ich Platz habe“, „…wenn ich Zeit habe“ oder „wenn ich sein kann, wie ich bin“. Für mich entsteht guter Kontakt dann, wenn sich mein Gegenüber auf mich einlässt, bereit ist, die Welt mit meinen Augen zu sehen, mit meinen Ohren zu hören und mit meinen Sinnen zu erleben. Und immer wieder kam die Aussage „mit gutem Kontakt entsteht Resonanz, in mir und mit den Menschen um mich herum“.
Resonanz.
Diesem Wort war ich in der Bachelorarbeit meiner Schwester zum Thema Schulpädagogik und der Auseinandersetzung mit „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ von Hartmut Rosa zum letzten Mal begegnet. Seine Idee einer „Resonanz als Grundsehnsucht nach einer Welt, die einem antwortet“, fasziniert mich seitdem. Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagte Rosa, der als Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena lehrt: „Resonanz, das heißt, ein Verhältnis zu Menschen oder zu Dingen, zur Natur, zur Kunst vielleicht oder sogar zu unserem Körper oder unseren eigenen Gefühlen, so etwas wie eine Antwortbeziehung, wo wir das Gefühl haben, wir sind wirklich verbunden mit der anderen Seite, die geht uns etwas an, die können wir auch erreichen“. Genau um diese Antwortbeziehung geht es uns hochsensiblen Menschen, in Bezug auf uns und die Menschen um uns herum.
Auch das gilt gleichermaßen für HSP und Nicht-HSP. Die intensive Emotionalität der HSP allerdings macht einen resonanten Kontakt ungleich schwerer. In der Folge benötigen hochsensible Menschen einen Berater, der ihre Bedürfnisse und Belange jederzeit ernst nimmt, der sie im tiefen Verstehen und Einordnen ihrer Hochsensibilität begleitet, der sie sowohl in ihrer Selbstregulation als auch in ihrer Beziehungskompetenz stärkt und der mit einer in hohem Maße respektvollen, akzeptierenden und wertschätzenden Grundhaltung gegenüber den besonderen Merkmalen hochsensibler Menschen arbeitet. Ist dies nicht der Fall, droht nicht nur der Abbruch der Beratung. Im schlimmsten Fall verstärkt ein resonanzarmer Beratungsprozess das Grundgefühl von HSP, nicht verstanden zu werden – und ihr Rückzug von der Welt wird verstärkt.
Unsere Welt aber braucht HSP und brauchte sie schon immer. Ihr Maß an Achtsamkeit, Einfühlungsvermögen, Verständnis und besonderen Fähigkeiten ist eine große Bereicherung und macht unsere oft so rücksichtslose Welt bedeutend besser. Die gilt beispielsweise für ihre Rolle im beruflichen Kontext. Mit ihrem allumfassenden und vernetzten Denken, ihrem Interesse für Ursachen und Folgen, erkennbare Muster, den Kontext und die dahinterliegenden Gedankengänge stellen sie größere Zusammenhänge und Querverbindungen schneller und leichter her. Vor Entscheidungen wägen sie Handlungsalternativen gründlich gegeneinander ab. Daraus kann sich ein verantwortungsvolles, weitsichtiges, besonnenes Handeln ergeben, das zum Erfolg von Unternehmen und Organisationen maßgeblich beiträgt.
Unsere Aufgabe als Berater ist es, Menschen mit dieser Gabe zu begleiten und sie bei der Offenbarung der eigenen Ressourcen – je nach Fragestellung der Beratung – zu unterstützen. Auf die Frage, ob ein Berater für HSP selbst hochsensibel sein sollte, stimme ich mit der Einschätzung Ulrike Hensels’ überein: „Nicht unbedingt. Wichtig ist nur in jedem Fall, dass der Coach die Hochsensibilität weder offen noch unterschwellig als etwas ansieht und darstellt, was es zu überwinden gilt.“
[1] vgl.: https://psylife.de/magazin/coaching/hochsensible-menschen-im-coaching