Geben wir Raum. Hochsensibilität in der psychologischen Beratung.
Hochsensible Personen achten auf jedes noch so kleine Detail und auf jede Nebenhandlung in ihrem Umfeld. Jedes Wort, jede Geste, jeder Tonfall wird genauestens untersucht, um an Informationen zu gelangen, die viele andere missachten oder erst gar nicht wahrnehmen. Hochsensible Menschen haben eine ausgeprägte Intuition. Sie fühlen intensiver und erfassen Emotionen schneller als andere Menschen. Das führt jedoch auch dazu, dass HSP leicht etwas „auf die Nerven geht“. Sie wirken schnell überreizt, emotional dünnhäutig und hoch verletzlich. Kritische Bemerkungen werden sofort persönlich genommen, und ein schiefer Blick kann zu Verunsicherung und Rückzug führen. Dies gilt es in jeder Phase des Beratungsprozesses zu beachten, um einen ständig drohenden Kontaktabbruch seitens des hochsensiblen Klienten zu vermeiden. Dies ist eine enorme Herausforderung für jeden Berater. Eine wertschätzende und authentische Grundhaltung sowie ein achtsames „Sich einlassen“ und ein individueller Beratungsprozess, der nicht starr geplant, sondern an jedem Punkt veränderbar ist, sind hier wichtige Parameter. Was das für die einzelnen Phasen des Beratungsprozesses bedeutet und auf welche Aspekte Berater achten sollten, beleuchte ich im Folgenden.
Aufbau des Beratungssystems
Der Aufbau des Beratungssystems ist die wichtigste und entscheidendste Phase des Beratungsprozesses für HSP. Nur wenn der Berater es mit einer wertschätzenden und achtsamen Haltung schafft, Resonanz im potentiellen Klienten zu erzeugen, kommt dieser zustande oder verläuft erfolgversprechend. Dabei ist vor allem das Erstgespräch einer der wichtigsten Aspekte. HSP geht es an dieser Stelle zumeist nicht um die Klärung sachlicher Rahmenparameter. Vielmehr steht bereits hier der Kontaktaufbau zwischen Berater und Klient im Fokus des Gesprächs. Auch hier verdeutlichen einige Aussagen meiner Klienten meinen Ansatz. „Wenn ich mir einen Berater suche, will ich ihn erst einmal kennenlernen. Ich will etwas von ihm hören, ihn einschätzen können“, waren die Worte eines Mannes, der nach zwei erfolglosen Beratungserstgesprächen bei mir war. „Wenn zwischenmenschlich nichts passiert, ist mir egal, ob der Preis günstig oder die Anfahrt einfach ist“, sagte eine Frau, die für ihre Beratungsstunden zwei Stunden Fahrtzeit auf sich nimmt. Mit mehr als zehn Beratern hatte sie telefoniert, bevor sie eine Beraterin fand, „die etwas von sich erzählte“.
Das Thema Resonanz spielt also bereits im Erstgespräch eine enorme Rolle. Berater, die dies erspüren und darauf eingehen, leisten einen ersten wichtigen Beitrag zum Aufbau des notwendigen Vertrauens. Und Vertrauen spielt gerade für HSP eine essentielle Rolle für einen Kontakt in Resonanz.
Eine Klientin, die ich in der von mir geleiteten Gruppe von Hamburgern mit HSP kennenlernte, rief mich eines Tages an und fragte nach einer Beratung. Ich erläuterte ihr am Telefon die Struktur meiner Beratung sowie die organisatorischen Rahmenbedingungen. Mein Fokus auf die sachlichen Rahmenparameter verschreckte sie und es kam zu diesem Zeitpunkt nicht zu einer Beratung. Einige Wochen später traf ich die Klientin in der Gruppe wieder und sprach sie auf das Telefonat an. Sie sagte mir, dass im Telefonat für sie keine Nähe entstanden sei, sie sich informiert, aber nicht wahrgenommen fühlte. Seitdem lege ich bereits im ersten Telefonat einen starken Fokus auf den Aufbau eines zieldienlichen Beratungssystems mittels Pacing. Die aktuelle Verfassung und Wahrnehmung des Klienten stehen bereits im ersten Telefonat im Fokus. Organisatorisches kläre ich in der ersten Sitzung, die ich ggf. kürzer gestalte, um meinen Klienten den für sie notwendigen Raum zum Ankommen zu geben.
Kommt es in der Folge des Erstgespräches zu einer Beratung, ist das Augenmerk des Beraters auf jedes Detail gefragt. Das beginnt bei der Einrichtung und Dekoration des Raumes, in dem die Beratung stattfindet und geht über das Angebot an Getränken und die Eliminierung störender Geräusche bis hin zur Wahl des eigenen Parfüms. In jedem dieser Details sollten Berater achtsam mit der besonderen Wesensart und der schnellen Reizüberflutung hochsensibler Menschen umgehen. Ich biete meinen Klienten bspw. verschiedene Sitzmöglichkeiten, wie bspw. Felle auf dem Boden oder Yogakissen an. Meine Erfahrung zeigt, HSP lieben echte Materialien, wie Holz oder Glas. Die Farbe Gold spielt eine wesentliche Rolle für viele und die Möglichkeit, sich einen Raum für sich am Ort der Beratung zu schaffen, führt zur Reduktion störender Sinnesreize und einem klareren Fokus auf das Thema der Beratung. Beratungen in der Natur oder während eines Spazierganges am Wasser sind für viele HSP eine gute Alternative zu jenen in geschlossenen Räumen.
Bei aller Liebe zum Detail sollte der Berater seine Authentizität jedoch nicht verlieren. Und geht es einem Berater zu weit, seine Aufmerksamkeit auf diese notwendigen Details seiner Klienten zu richten, ist es ggf. angebracht, Klienten mit HSP an einen Kollegen zu verweisen. Authentizität des Beraters ist für HSP essentiell für Resonanz.
Im weiteren Verlauf dieser Phase sollten Kooperation und Transparenz eine wesentliche Rolle spielen. Vorsicht ist aus meiner Sicht beim Thema Hypothesen geboten. Hochsensible Menschen haben gelernt, in anderen zu lesen, ohne deren Worte zu hören. Sie erspüren Hypothesen, und wenn diese nicht transparent gemacht werden, fühlen sich HSP bewertet und nicht wahrgenommen. Aus meiner Erfahrung ist es zielführend, die Notwendigkeit von Hypothesen direkt am Anfang zu besprechen und dem Klienten stets die Möglichkeit zu geben, ihn gar zu ermutigen, diese zu erfragen. Im Falle einer Beratung führte die Auseinandersetzung mit meinen Hypothesen nicht nur dazu, dass meine Klientin ihren für sie aufreibenden Widerstand gegen die angeborene HSP hinterfragte. Sie konnte durch meine wertschätzenden Hypothesen ihrer Hochsensibilität sogar Positives abgewinnen und so konstruktiver mit ihrer Lebensgestaltung umgehen.
Kontextklärung
Menschen mit HSP sind oft Meister der Selbstanalyse. Darin steckt viel Potenzial, aber auch große Gefahr der einseitigen Betrachtung systemischer Zusammenhänge. In diesem Thema bzw. in der Grundannahme, dass der Mensch kein von der Außenwelt abgeschlossenes Wesen ist, sondern innerhalb eines oder mehrerer Systeme lebt, liegt für mich die besondere Herausforderung der Kontextklärung. HSP wissen in den meisten Fällen sehr viel über die von ihnen bewohnten Systeme. Sie haben sie analysiert, bewertet, eingeordnet und sich in ihnen eingerichtet. Jede Änderung ist mit großen Ängsten verbunden.
Für uns Berater entsteht hier der Spagat zwischen dem Expertentum des Klienten einerseits sowie andererseits der Notwendigkeit, genügend Fragen zu stellen, um die Gefühle, Strukturen, Ängste oder Missverständnisse zu verschieden, die dem aktuellen Problemerleben zugrunde liegen. Hilfreich ist hier bspw. die Kenntnis des Eisbergmodells. Nur so kann er im Beratungsprozess Unterschiede und Alternativen herausarbeiten. An dieser Stelle ist es hilfreich, den Blick des Klienten auf die Wechselwirkungen zwischen ihm und den ihn umgebenden Personen, Gruppen, Organisationen, Situationen, Prozessen, Problemen oder Konflikten zu richten. Der wertschätzende Blick auf die „Landkarte des Klienten“ und ausreichend Zeit für die Fokussierung auf das Problem, das teilweise weit hinter dem bewussten Problem liegt, kann wesentlich zum Erfolg dieser Phase beitragen.
In den Gesprächen mit einigen HSP, die ich fragte, warum vorherige Beratungen oder Coachings für sie gescheitert waren, kam immer wieder die Antwort „Der oder die hat mich nicht verstanden“. Oder: „Ich habe mich nicht gesehen gefühlt“. In meinen Beratungen widme ich dem „Sehen der inneren Landkarte“ meiner Klienten daher sehr viel Zeit. Nur wenn ich wirklich alle Bereiche, die der Lösungsfindung dienlich sind, betrachtet habe, fühlt sich mein Klient gesehen und der Kontakt für das weitere Beratungsgespräch ist zu jeder Zeit möglich. Als hilfreich empfinde ich in diesem Teil der Beratung für HSP Methoden der Aufstellung, wie sie bspw. im Ressourcen-Kosmos von Haiba Kreszmeier aufgeführt sind. Aufstellungsarbeit richtet den Fokus wie mit einer Taschenlampe auf einen ausgewählten Bereich im „Innen“ des Klienten. Diese Fokussierung ist für HSP sehr hilfreich, da hochsensible Menschen ihre Antennen zu oft auf das „Außen“ richten. Mehr noch, für einige meiner Klienten war diese Arbeit eine „regelrechte Erholung“. Nicht umsonst sind alle Formen der Meditation sehr hilfreich für HSP.
Auftragsklärung und Entwicklung von Zielvisionen
HSP legen sehr viel Wert auf eine Beziehungsebene, in der sie sich wertgeschätzt, gesehen und beachtet fühlen. Darin liegt in der Phase der Auftragsklärung eine hohe Bedeutung. Dabei sollten Berater nicht vergessen, dass ein guter Beratungsprozess für viele HSP das erste Mal sein kann, dass sie einen sie nährenden Kontakt und Resonanz erfahren. Nicht selten sind HSP mit dieser Erfahrung überfordert und überstimuliert. An dieser Stelle obliegt es dem Berater zu entscheiden, ob der Beratungsprozess an dieser Stelle zielführend fortgesetzt werden kann oder die aktuelle Sitzung unterbrochen bzw. beendet werden sollte. Dieser Umstand verstärkt sich, wenn hochsensible Menschen überhaupt erst durch ihren Berater darauf gebracht werden, sich als hochsensibel zu erkennen. Das kann für viele Klienten eine bahnbrechende Entdeckung sein, die mit der Chance eines neuen Selbstverständnisses einhergeht. Ein Berater, der sich individuell auf die Bedürfnisse seines Klienten einlässt, kann dafür sorgen, dass die notwendigen Ressourcen für diesen Bewusstseinsprozess aktiviert werden. Auch die Erarbeitung der Ziele in dieser Phase kann eine Herausforderung für den Beratungsprozess darstellen. Vor allem die Definition „smarter“ Ziele kann zu Stress beim hochsensiblen Klienten und zum Kontaktabbruch führen.
Ich habe immer wieder erlebt, dass es hochsensiblen Menschen im ersten Schritt um ein Verständnis geht, in welchem ihrer Lebensbereiche sich der Wesenszug der Hochsensibilität besonders auswirkt. Beinah automatisch ergibt sich daraus die Suche nach einem anderen Erleben des eigenen Ichs. Unterschiedsbildung, die als wesentliches Merkmal bzw. Ziel der systemischen Beratung gilt, ist gerade für HSP eine hervorragende Möglichkeit – nicht nur bei der Definition allgemeiner und spezifischer Ziele.
In der Arbeit mit meinen Klienten habe ich verschiedene Methoden bzw. Interventionen ausprobiert und meine Gesprächspartner nach eigenen Erfahrungen gefragt. Auffällig ist, dass HSP stark methodenbasierte Beratungsprozesse ablehnen. In ihnen haben sie das Gefühl, nach „Schema F“ beraten zu werden und auf menschlicher Ebene nicht ausreichend gesehen oder wahrgenommen zu werden. Aus meiner Erfahrung eignen sich für den Beratungsprozess von HSP alle Interventionen, die ihrem ganzheitlichen, bildhaften Denkstil und ihrer lebhaften Vorstellungskraft entgegenkommen und dabei das Erleben von Unterschieden ermöglichen. Beispielhaft sollen an dieser Stelle alle Methoden des Reframing sowie der Aufstellungsarbeit genannt werden, die mit visuellen Ansätzen arbeiten. Ulrike Hensel erwähnt in ihrem Buch noch Beispiele aus der lösungsorientierten Gesprächsführung sowie Ansätze aus der kognitiven Therapie. An dieser Stelle fehlt mir noch genügend Praxis, um darüber eine Empfehlung abgeben zu können. Die Wunderfrage bspw., die aus der lösungsorientierten Gesprächsführung stammt, hat sowohl bei mir als auch bei meinen Klienten zum Abbruch des Kontaktes zum Berater geführt.
Alle Klienten, vor allem aber HSP, sollten zwischendurch immer mal wieder innehalten und sich ihrer Gefühle klar werden können. Auch die Aufforderung, sich in einer besonders anspruchsvollen Situation bewusst auf den Atem zu konzentrieren, gibt hochsensiblen Menschen das Gefühl, verstanden zu werden und unterstützt den Kontakt in Resonanz. Hier kann die am Anfang gewählte oder geschaffene Sitzsituation einen wesentlichen Beitrag liefern. Ebenso hilfreich sind erdende Achtsamkeitsübungen wie „wollen Sie Ihre Augen schließen und den Kontakt zu Ihren Fußsohlen und dem Boden spüren?“, um Zugang zu einer tieferen Ebene aus dem Unterbewusstsein zu erhalten.
ICH BIN IN GUTEM KONTAKT MIT MIR
„Ich bin hochsensibel“. Diesen Satz zu sagen, fällt mir noch immer schwer. Als Hochsensible unterscheide ich mich durch eine ausgeprägte Feinfühligkeit und erhöhte Empfänglichkeit für äußere und innere Reize. Systemische Beratung mit dem besonderen Fokus auf meine Hochsensibilität war eine bereichernde Erfahrung, deren einzelne Elemente ich immer wieder in meinen Alltag integriere. Rückblickend habe ich diese Aspekte, die sich in allen Phasen der Beratung etablieren lassen, in beiden Beiträgen aufgezeigt. Und doch können meine Ausführungen nur als Einladung an jeden Berater gelten, im individuellen Erleben mit HSP eigene Erfahrungen zu machen und neue Wege zu gehen. Aus meiner Sicht und meiner Erfahrung als Beraterin und Klientin ist dabei vor allem ein wertfreier Umgang mit Klienten sowie eine Situation, in der der hochsensible Mensch das eigene Sosein als Bereicherung und nicht als Problem empfindet, der wichtigste Baustein einer erfolgreichen Beratung. Darauf baut der gute Kontakt mit sich selbst als Zielvorgabe erfolgreicher Beratungsprozesse auf. Das gilt wohl allgemein für alle Beratungsprozesse. In der Beratung von HSP und vor dem Hintergrund ihrer besonderen Wesensart ist dies die wesentliche Grundvoraussetzung erfolgreicher Beratungen.